
Begegnung in der Altenpflege
Dr. Hans-Jürgen Wilhelm
Veröffentlicht in: Pr-Internet; HPS-Medienverlag
04/2000 S. 91 - 97
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Begegnung wird möglich, wenn man gelernt hat, die Welt mit den Augen anderer zu sehen.
In diesem Artikel geht es darum, den Weg vom Behandlung- zum Begegnungszentrum zu beschreiben.
Entscheidend hierbei ist, dass der Bewohner nicht als zu therapierender Patient, sondern als gleichberechtigtes Gegenüber gesehen wird, dem ich nur begegnen kann, wenn ich mir die Mühe mache, seine Welt kennen zu lernen und zu verstehen. Dies ist allerdings sehr viel mühevoller, als die derzeit meist angewandten Methoden, in denen der Bewohner den allgemeingültigen Regeln untergeordnet wird.
Der Begriff „Begegnung“ wird hierbei auf verschiedenen Ebenen realisiert (Begegnung Personal / Bewohner; Begegnung der Generationen ...).
Einrichtungen der stationären Altenhilfe sind zumindest in Teilbereichen noch mit der von Goffman beschriebenen Situation vergleichbar. „Die Institutionen hören auf, die Heimat des Ich zu sein; statt dessen werden sie zu tyrannischen Wirklichkeiten, die das Ich verzerren und entfremden.
Die Rollen aktualisieren nicht mehr das Ich, sondern dienen als Schleier der Maya, der das Ich nicht nur vor den anderen, sondern auch vor dem eigenen Bewußtsein des Individuums verbirgt. Nur in den Zwischenbereichen, die von den Institutionen sozusagen leer gelassen wurden, kann das Individuum hoffen, sich selbst zu entdecken oder zu bestimmen“ (Berger 1975, 83). Es kann davon ausgegangen werden, „daß der Druck der Institution auf den einzelnen vielfach so groß geworden ist, daß sich die Selbstdarstellung des Mitglieds nicht mehr ermöglichen läßt. Viele schaffen sich deswegen am Rande von Institutionen neue Lebensräume, in denen sie ihre Identität aufbauen“ (Veelken 1981, 347).
Aus diesem Grund muß die Frage beantwortet werden, wie die zukünftige Institution aussehen soll. Welches Ziel streben Einrichtungen der stationären Altenpflege an und wie kann es erreicht werden? Dieses Ziel kann im Gegensatz zur totalen Institution die „gesprengte Institution“ (Mannoni 1978, 35) sein.
„Eine gesprengte Institution ist eine Gruppe, die Breschen, Öffnungen nach außen hat, in der das Individuum nicht wie gleichsam eingemauert sich erfährt. (...) Für das Individuum bedeutet gesprengte Institution ein immer wieder neues Verlassen der Heimat, die Vergrößerung des Risikos, das die geschlossene Institution verweigert.
(...) Identitätsentfaltung wird als Prozeß permanenter Suche verstanden, der nicht in totalen Institutionen geschieht. Orte des Lebens werden zu gesprengten Institutionen, Orten, an denen sich Selbstverwirklichung realisieren kann“ (Veelken 1981, 155 ff).
Mannoni beschrieb mit dem Projekt Bonneuil einen „Ort zum Leben“ (Mannoni 1978) für systemgestörte Kinder und Jugendliche. Veelken hat dies für die Altenarbeit mit der Entwicklung vom „Behandlungs- zum Begegnungszentrum“ aufgezeigt (Veelken 1981). Dieser Weg soll im folgenden genauer erläutert werden.
Vom Behandlungs- zum Begegnungszentrum
Begegnung wird möglich, wenn man gelernt hat, die Welt mit den Augen anderer zu sehen. Um hierbei nicht die Orientierung zu verlieren, ist eine eigene gefestigte Identität notwendig.
Erst wer in der Lage ist, die Wahrheit und die Wirklichkeit (vgl. Wilhelm 1998) seines Gegenübers zu verstehen, hat die Möglichkeit, diesem wirklich zu begegnen. In der stationären Altenpflege sieht es derzeit eher so aus, daß der Bewohner in die Wahrheit und die Wirklichkeiten der Institution eingezwängt wird. Begegnung kann hier überhaupt nicht möglich werden, da die Wahrheiten und Wirklichkeiten der Bewohner als absurd abgetan werden. Der Bewohner wird behandelt , um das reibungslose Funktionieren der Institution zu sichern. Hierzu wird der Bewohner gängigen ästhetischen Vorstellungen (täglich rasieren, ordentliche Kleidung etc.), medizinischen Zwängen (kein Kuchen für Diabetiker, kein Alkohol, kein Spaziergang etc.) untergeordnet, die von nun an sein Leben leiten. Ihm wird das Recht abgesprochen, die Verantwortung für sein Leben weiterhin zu tragen, er handelt nicht mehr, er wird behandelt. Unterschiede innerhalb des Alters und der stationären Altenpflege auf den Ebenen der Wahrheit, Wirklichkeit und Normalität sind der Grund dafür, daß Begegnung nicht möglich ist, da die einzelnen Beteiligten nicht gelernt haben, mit anderen Wahrheiten und Wirklichkeiten umzugehen und somit das Verhalten des Bewohners immer als anormal bezeichnen, obwohl es für den Bewohner - aus seiner Sicht der Welt heraus - ganz normal ist, es ist lediglich unwahr. Die Wirklichkeit der Institution muß Möglichkeiten des Aufeinanderzugehens schaffen, so daß Begegnung möglich wird. Andere Wahrheiten dürfen nicht wegtherapiert werden.
Der Unterschied eines Begegnungszentrum zum Behandlungszentrums liegt darin, daß jeder einzelne Beteiligte innerhalb der Institution als Subjekt gesehen wird, dessen ihm eigene Sicht der Welt wichtig ist.
Das Personal läßt sich auf die Wahrheiten und Wirklichkeiten der Bewohner ein, ohne sie von Anfang an zu ignorieren. In einem Begegnungszentrum erhält der Bewohner die maximale Verantwortung für sein Leben zurück, seine ihm eigene Welt wird akzeptiert und er erhält die Möglichkeit innerhalb seiner Welt auf seine Umwelt Einfluß zu nehmen.
Jeder einzelne Beteiligte, seien dies nun Mitarbeiter, Bewohner, Angehörige oder Besucher, muß lernen, andere Wahrheiten zu erkennen, mit ihnen zu leben und umzugehen. Durch dieses offene Zugehen auf andere Wahrheiten besteht allerdings die Gefahr, die eigene zu verlieren. Aus diesem Grund ist ein offenes Zugehen auf andere nur möglich, wenn das eigene Selbst auf einer festen Basis ruht - der eigenen Identität. Hier sollte auch die berufliche Identität der Altenpflege selbst bedacht werden.
Von den oben bereits beschriebenen drei Ebenen Wahrheit, Wirklichkeit und Normalität ist die der Wirklichkeit für Veränderungen am besten geeignet.
Die Ebene der Wahrheit greift bereits viel zu tief. Hier besteht lediglich noch die Möglichkeit, zwischen der Wahrheit des dementen oder der des normalen Menschen zu unterscheiden und eine für die Wahre zu erklären.
Diese Entscheidung ist in der Praxis aber bereits zu Gunsten des Normalen gefällt worden, und es wäre wenig sinnvoll, nun einfach die des dementen als die Wahre zu postulieren. Die grundlegende Wahrheit einfach zu ändern, ist kaum möglich, könnte dies dennoch realisiert werden, ist der Erfolg gleich null, denn Wahrheit A würde lediglich durch Wahrheit B ersetzt.
Auf der Ebene der Normalität wurden bereits diverse Versuche unternommen, die Situation in der stationären Altenpflege zu beeinflussen. Veränderungen auf dieser Ebene sind aber mit Regieanweisungen zu vergleichen, deren Folge ein Kunstprodukt ist. Es entsteht eine Art Theateraufführung mit mehr oder weniger gut gelernten Texten. Es entsteht so alles andere als Normalität.
Zunächst einmal gilt es zu betonen, daß jeder, auch der alte Mensch das Recht haben muß, mit seiner Situation, seinem Leben und nicht zuletzt mit sich selbst unzufrieden zu sein. Weder die Einrichtung noch die ehren- oder hauptamtlichen Mitarbeiter, noch die Angehörigen sind für das Glück des Bewohners verantwortlich oder haben gar die Aufgabe, diesem den Himmel auf Erden zu schaffen. Da aber immer wieder der Eindruck entsteht, daß gerade dies es ist, was sich alle Beteiligten zum Ziel gesetzt haben, ist die große Unzufriedenheit bei vielen Mitarbeitern aber auch bei Besuchern und Angehörigen leicht verständlich. Der einzelne Mitarbeiter fühlt sich Aufgaben verpflichtet, die er nie erfüllen kann, die aber auch nicht die seinen sind (vgl. Koch-Straube 1997, 231). Die Besucher und Angehörigen möchten „nur das Beste für den Bewohner “ (TE 16) und fühlen sich so verpflichtet, einzugreifen, wenn der Bewohner Klagen äußert. Hierbei muß immer wieder bedacht werden, daß auch eine stationäre Einrichtung der Altenhilfe kein hermetisch abgeschiedenes Etwas darstellen kann, in welchem persönliche Sorgen und Nöte die absolute Ausnahme darstellen. Dies bedeutet zu akzeptieren, daß es einem alten Menschen schlecht gehen darf. Er kann allen Grund haben, mit seinem Leben unzufrieden zu sein.
Nicht akzeptieren zu können, daß er - gerade er - nun doch alt geworden ist. „Früher glaubte ich immer, daß ich nie alt werde, doch es geht so schnell und jetzt sitzt man hier ...“ sagt eine Bewohnerin (TE 16).
Fühlen sich aber Außenstehende, die teilweise nicht einmal eine nähere Beziehung zu dem einzelnen Bewohner haben, für alle Sorgen und Nöte des Bewohners allein verantwortlich, so wird der Bewohner nicht als gleichberechtigter Mitmensch, sondern als Objekt des eigenen Wohlwollens betrachtet. Der Bewohner wird zu einer Marionette, die als undankbar, schwierig und unbehandelbar gilt, wenn sie sich ihren Auffassungen von Glück widersetzt. „Das eigene Verhalten ihnen (den Bewohnern) gegenüber sollte nicht anders sein als das anderen Erwachsenen gegenüber“ (Fiehler 1996, 124).
Auch „der Begriff der Rehabilitation muß in der Gerontologie insofern eine Abwandlung erfahren, als nicht dieselbe Begriffsbestimmung wie in der Arbeitsphase Gültigkeit haben kann, also Wiedereingliederung eines Erkrankten oder Beschädigten in das tätige Leben. Im Alter ist es die Aufgabe der Rehabilitation, den Gesundheitszustand so weit wiederherzustellen, daß der alte Mensch nach überwundener akuter Krankheit und nach oder auch bei chronischen Leiden möglichst beschwerdefrei ist, um sich eines glücklichen Alters erfreuen zu können“ (Schubert 1972, 220).
Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) dürfen nicht zur letzten Resignation vor dem eigentlichen Leben werden. Die Kompensationsmuster, die uns bisher ermöglichten, uns nicht zu sehr mit unserem Leben auseinander zu setzen, dürfen nicht künstlich neu geschaffen werden, um nun auch den alten Menschen in den Tod zu singen . Inwieweit stellt z.B. auch Kompetenztraining lediglich das krampfhafte Festhalten an dennoch langsam Schwindendem dar (vgl. Gronemeyer 1993, 173 ff). Es geht hier keineswegs darum, diese Ansätze in Frage zu stellen, ganz im Gegenteil gerade für die immer aktueller werdenden Pflegediagnosen sind diese Grundlagen unabdingbar. Es geht nur darum, diese nicht als Fluchtversuch vor etwas zu mißbrauchen, dem letztendlich doch nicht entgangen werden kann. Diese Aktivitäten dürfen nicht zur dumpfen Beschäftigung werden, die lediglich die tote und bleischwere Zeit (Goffann 1973, 72) erschlagen. Sie dürfen nicht zum Selbstzweck werden, zum einzigen Zeitvertreib des Bewohners. Der Sinn des Alters und der gewonnenen Lebenszeit würde dann lediglich noch darin liegen, Arbeitsplätze zu schaffen, um beschäftigt und therapiert zu werden - bis zum Tod. Der Mensch wird zum Objekt der Therapie, die seine Zeit gestaltet und überbrückt. Doch stellt sich die Frage, „wie die Menschen Gelegenheit erhalten, die stetig wachsende frei verfügbare Zeit mit sinnvoller Tätigkeit auszufüllen, und wie sie es lernen, die sich für sie ergebende Gelegenheiten zu ihrem eigenen Wohl und zum Wohle ihrer Familien und der Allgemeinheit zu nutzen“ (Dettbarn-Reggentin 1992, 28; vgl. Nell-Breuning 1984). Ganz so einfach, „wie sich manche forschen Werte-Wunderheiler das vorstellen“ (Gronemeyer 1993, 42), sind Lösungen weder hier, noch in der Frage der Gewalt unter Jugendlichen zu finden - der Zusammenhang aus dem dieses Zitat entrissen wurde. Soweit diese beiden Altersschichten der Alten und der Jugendlichen auch auseinander liegen mögen und so sehr verschieden die jeweiligen Probleme erscheinen, so wird derzeit lediglich versucht, beide Generationen mit Betreuungsprojekten ruhigzustellen. „Das sind sozialtherapeutische Regentänze, mit denen die kulturelle Wüste, in der sich die Jugendlichen vorfinden, nicht wieder bewässert werden kann. Die Sache ist ernster. Das moralische Ozonloch läßt sich nicht kurzerhand mit
Betreuung und Disziplinierung wieder schließen“ (Gronemeyer 1993, 43). Die neuen Fragen, denen sich die Gesellschaft gegenübersieht, können nicht einfach mit alten Lösungsmustern beantwortet werden. Es ist derzeit vor allem notwendig, Grundlagen zu schaffen, welche die Entdeckung neuer Lösungen ermöglichen. Generationsübergreifende Veranstaltungen könnten hierfür z. B. ein Anfang sein. „Wir sehen, daß dieser moralische Klebstoff, der die Zivilisation zusammenhält, auszugehen droht. (...) Es gibt Auflösungserscheinungen ... Eine Gesellschaft ohne Gemeinschaftselemente - eine Ansammlung von Singles ohne gegenseitige Zuwendung und Unterstützung - kann ich mir nicht vorstellen. Der einzelne braucht die Gemeinschaft und umgekehrt“ (Gronemeyer 1996, 15 ff; zitiert Bierich). Es sind sowohl Jugendliche als auch Alte, „die gemeinsam - wenn auch an unterschiedlichen Orten - Leben als Aufforderung zum Verbrauchen mißverstehen“ (Gronemeyer 1996, 23 f). Im Gegensatz zu Behandlung muß Begegnung zwischen den einzelnen Akteuren entstehen. Sowohl die Jugendlichen wie auch die Alten müssen in die schwierige Aufgabe der Lösung der jeweiligen Fragen einbezogen werden, und der alte Mensch hat aufgrund seiner Lebenserfahrung nicht unbedingt die schlechteste Voraussetzung hierfür. Der Weg dorthin ist bestimmt nicht einfach und bedeutet für alle Beteiligten, daß sie dazu lernen müssen.
„Auf diese Aufgabe einer zweiten Reife, der Reise nach innen sind die meisten Menschen, vor allem die Älteren, nicht vorbereitet. Hier ist der Ansatzpunkt für neue Wege in der Bildungsarbeit mit Älteren. Denn gerade die Älteren sind es potentiell, die erkennen können, daß die Jahre jenseits der Sechzig die Jahre unserer zweiten Reife, vielleicht die größte Gabe der Evolution an die Menschheit sind“ (Veelken 1992, 166).
Diese Gabe aber kann für alle genutzt werden, wenn „beide Teile der pädagogischen Szene sich als Subjekt begreifen. (Es) handelt (...) sich nicht mehr um Behandlung, um Betreuung, sondern es werden Formen der Begegnung entwickelt und erfahren. Diesen Unterschied zwischen Betreuung und Begegnung kann man dadurch verdeutlichen, daß bei Betreuung und Behandlung sich Subjekt und zu behandelndes Objekt gegenüberstehen, während bei der Begegnung sich zwei Subjekte treffen, um sich miteinander zu entfalten“ (Veelken 1981, 153).
Die Frage des Älterwerdens und die Probleme und Sorgen, die der Bewohner eines Altenheimes hat, werden durch Aktivitäten wie „Mensch-ärgere-Dich-nicht-Turniere“ oder Gedächtnistraining allein nicht gelöst - vielleicht eher verstärkt. „Ähnliches läßt sich von manchen Altenbegegnungsstätten, Altentagesstätten usw. sagen, in denen Ältere als passive Konsumenten aufgenommen werden, aber keine Kräfte zu aktiver Lebensgestaltung entfaltet werden“ (Veelken 1981, 157). Es wird kein Weg daran vorbei führen, den alten Menschen ernst zu nehmen und dies bedeutet auch, seine Probleme nicht wegzustreichen, sondern ihm die Möglichkeit zu geben, sich mit ihnen auseinander zu setzen. Es muß erkannt werden, daß es nicht eine Lösung für jeden Bewohner geben kann. Vielmehr ist zu bedenken, daß nicht nur für verschiedene Menschen verschiedene Ansätze gelten können (vgl. Lehr 1986, 414), sondern daß jeder Mensch Momente hat, in welchen für ihn z.B. die Disengagement - Theorie zutreffen kann und andere, in welchen es die Aktivitätstheorie wäre.
Auch alte Menschen müssen das Recht besitzen, ihre eigene Meinung ändern zu dürfen, auch wenn weder die Theorie noch die Praxis dies derzeit zulassen. Wäre mit dem Begriff der Würde des Menschen nicht eher eine Fiktion verträglich, die dem alten Menschen Möglichkeiten bietet, sich mit sich und seinem Leben auseinander zu setzen, so wie er es möchte. Das Spektrum könnte hier von Fort- und Weiterbildung (vgl. Veelken 1981), der Ermöglichung individueller Hobbys bis zum Akzeptieren des einfachen Wunsches nach Ruhe reichen. Es ist notwendig, den „Unterschied zwischen Betreuung und Begegnung“ (Veelken 1981, 153) zu erkennen und so den alten Menschen nicht als „Objekt, sondern (als) Subjekt der Szene“ (Veelken 1981, 153) zu sehen. Dies beinhaltet auch, ihm seine Kompetenzen zuzugestehen und ihm die Verantwortung für sein Leben zurückzugeben.
In diesem Zusammenhang möchte ich aus Home Life zitierten. „Verantwortbares Risiko eingehen zu können, sollte als normal angesehen werden und Bewohner sollten nicht entmutigt werden, bestimmte Aktivitäten zu unternehmen, nur weil sie ein gewisses Risiko beinhalten“ (Home Life, Paragraph 1.2.8,). „Die Meinung, daß beim Älteren kaum Änderungen im psychosozialen Bereich zu erreichen sind, verführt leicht dazu, nur betreuende und beschützende Maßnahmen vorzusehen“ (Radebold 1973, 85 f) und den Bewohner so vor jeder Gefahr zu schützen.
Begegnungszentrum darf aber nicht nur Begegnung zwischen Mitarbeiter und Bewohner bedeuten, auch wenn der Ansatz den Bewohner als gleichberechtigtes Objekt zu sehen von ausschlaggebender Bedeutung ist. Die Hauptaufgabe der Mitarbeiter liegt m.E. darin, Begegnungen innerhalb der Einrichtung einer stationären Altenpflege zu ermöglichen. Hierzu zählen auch ungezwungene Begegnungen der Bewohner untereinander, die ihnen Möglichkeiten der Kommunikation und des Kennenlernens bieten und nicht nur eine Rundumbetreuung, die genau dies verhindert. Informationsveranstaltungen auch für Mitbewohner, in denen das Zusammenleben mit kranken und dementen Bewohnern thematisiert und Hilfestellungen im Umgang gegeben werden, zählen keineswegs zum Alltag in diesen Einrichtungen.
Aber auch Begegnungen mit Außenstehenden müssen ihren festen Platz innerhalb einer solchen Einrichtung haben. Hier zählt eine integrierende Angehörigenarbeit ebenso dazu wie die Organisation und der Besuch öffentlicher Veranstaltungen. „Bisher vorliegende Erfahrungsberichte beschrieben die Interaktionen und Kontakte zwischen Angehörigen und Pflegemitarbeitern häufig als angespannt und konfliktbeladen. Unsere Untersuchungsergebnisse machen deutlich, daß sich hier im Laufe der Zeit anscheinend einige Veränderungen ergeben haben. (...) Nach Einschätzung der Mitarbeiter arbeiten bei systematischer Angehörigenarbeit die Angehörigen aktiver mit, die Bewohner integrieren sich leichter, und auch das Klima in den Wohngruppen ist besser. (...) Diese Entlastung darf aber nicht als Personalentlastung im Sinne einer Einsparung mißverstanden werden. Sie hat qualitativen Charakter“ (Kremer-Preiss 1996, 101 ff). Hierbei geht es somit keineswegs nur um Begegnung der Bewohner mit deren Angehörigen, sondern um eine Einbeziehung der Angehörigen in die Hausgemeinschaft. Auch die gegenseitigen Vorurteile der Mitarbeiter und Angehörigen können durch solche Kontakte abgebaut werden.
Die Kontakte und Öffnungen des Hauses nach außen müssen ebenfalls so gestaltet sein, daß Begegnung entstehen kann. Durch die meist übliche Bühnenatmosph.re während des Vorspielens, Vorsingens, Vortragens etc. wird für kurze Zeit vielleicht etwas Abwechslung geboten, aber es entsteht kein Kontakt. Die Distanz bleibt gewahrt. Auch hier müssen normale Begebenheiten geschaffen werden, die den Bewohner nicht schon zu Beginn als zu beglückendes Objekt outen , sondern ihm die Möglichkeit bieten, sich als eigenständige Person einzubringen, dies ist keineswegs einfach und benötigt viel Zeit und Geduld.
Der Gedanke des Begegnungszentrums kann noch weiter gedacht werden. Es geht nicht nur darum, einzelne Menschen zusammenzuführen, sondern auch „Tradition und Fortschritt zu verknüpfen. (...) Auf der Suche nach Neuem, Unerforschtem und Besserem negiert die Gesellschaft heute gerne ihre Herkunft. Fortschritt: Man schreitet fort. Von wo und wohin? Altes, gleich ob bewährt oder nicht, gilt als überkommen und ersetzbar durch Innovation “ (Besler 1996, 3). „Alte Werte werden - so Pasolini - klammheimlich durch neue ersetzt. Ein klassenübergreifender Hedonismus überzieht alle Lebensbereiche mit einer konsumistischen Haltung“ (Gronemeyer 1995, 68).
Durch die Begegnung des Alters mit der Jugend kann der Entstehung von Vorurteilen vorgebeugt und bereits bestehende können reflektiert werden. Für beide Seiten ist es wichtig zu erkennen, daß sie sich gegenseitig etwas zu sagen haben, daß es Bereiche gibt, in welchen das Wissen der älteren Generation neu überdacht werden muß, daß dieses aber für viele Gebiete auch sehr hilfreich sein kann. „Nur wenn es Zusammenhänge zwischen den Generationen gibt, eine Vorgeschichte und eine Nachgeschichte, verlieren die Menschen sich nicht als ungeschichtliche Einzeller“ (Gronemeyer 1995, 65; vgl. Gronemeyer 1994; 98).
Derzeit scheint sich die Begegnung der Generationen auf die einfache Frage zu konzentrieren, „wer sich den größten Anteil am Kuchen sichern kann? (...) Die Pflege eines alten Menschen ist (nachdem die Familie immer schneller aufhört, dafür zuständig zu sein) eine Sache der Institutionen geworden“ (Gronemeyer 1994, 46 f) und nur selten scheint es möglich, daß durch den Umzug in eine Einrichtung der stationären Altenpflege, die Angehörigen sich nicht aus der persönlichen Verantwortung stehlen.
An dieser Stelle wird deutlich, daß es sich bei dem Weg vom Behandlungs- zum Begegnungszentrum keineswegs nur um Fragen der Institution Altenheim handelt, sondern daß auch die Frage nach der Stellung des letzten Lebensabschnitt im Leben eines jeden Menschen gestellt werden muß. Wenn Begegnung möglich werden soll, muß das Alter in der Zukunft einen anderen Stellenwert innerhalb der Gesellschaft erhalten.
Abkürzungen
TE: eigene teilnehmende Beobachtung
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