Beziehungen in der stationären Altenpflege

Dr. Hans-Jürgen Wilhelm

Veröffentlicht in: Pflege Zeitschrift; Kohlhammer; 01.99

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Eine Definition der Beziehung Bewohner/Mitarbeiter ist äußerst schwierig. Wobei hier keineswegs der Eindruck entstehen darf, dass es sich bei den Gruppen der Bewohner und des Personals um homogene Gruppen handelt. Bei beiden sind auch die internen Beziehungen wichtig. Während die Gruppe der Bewohner vom reinen Bewohner (Pflegestufe 0) bis zum Schwerstpflegefall (Pflegestufe 3) reicht, sind beim Personal ebenfalls diverse Personengruppen (Zivildienstleistende, Mitarbeiter der Verwaltung, bereichsübergreifender Dienst, freiwilliges soziales Jahr, meist ältere ungelernte Kräfte mit viel Berufserfahrung, meist junge examinierte Kräfte etc.) zu beachten. Mögliche Lösungen reichen von »familiär« bis zum »Kunden«, von »freundschaftlich« bis zum »ganz normalen Arbeitsverhältnis«. Teilweise sehen sich sowohl Mitarbeiter (Mitarbeiterin über Bewohner: »Wir ziehen die uns schon richtig«; Mitarbeiter: Die Beziehung »allgemein zu schwächeren Menschen, dass ich eher auf die zugehe, als umgekehrt – einseitige Beziehung. Ich empfinde das als normal«; Bewohnerin: »Beim Einzug hat sich das Personal beschwert, dass ich den Arzt selbst gerufen habe. Jetzt haben sie sich daran gewöhnt, dass ich selbständig bin und man lässt mich auch gewähren«).wie auch Bewohner (Bewohnerin: »Wir bezahlen sehr viel Geld und wollen die Puppen tanzen lassen«; Zivildienstleistender: »Mit den Verwirrten kommt man eher klar, die anderen haben mehr Wünsche, bei denen kann man nicht sagen, ich komm’ später. Frau M. zum Beispiel hat einen klaren Kopf, hat aber wenig Verständnis für andere Bewohner und gibt uns die Schuld, wenn die z.B. ihr Klo benutzen oder an die Tür klopfen«) in der führenden Position. »Untersuchungen bestätigen, dass alte Menschen nur unzureichend zwischen institutioneller-professioneller Rolle und Person differenzieren. Sie sehen im Gegenüber primär die Person und fordern sie als ganze« (Fiehler 1996, 123).

Hauptsächlich zwischen nicht verwirrten Bewohnern und den Mitarbeitern führt dies häufig zu kleinen Rangeleien, sei dies nun über den täglichen Weinkonsum, über das Naschen trotz Zuckerkrankheit, über den Spaziergang im Schnee oder über den richtigen Umgang mit anderen Bewohnern. Mitarbeiter erwarten oft ein hohes Maß an Toleranz von Bewohnern, wenn es um demente Mitbewohner geht und fühlen sich als deren Fürsprecher. Ähnlich wie bei Erzieherinnen im Kindergarten entsteht oft der Eindruck, daß die Mitarbeiter durchaus sanktionsberechtigt sind, keinesfalls aber andere Bewohner (vgl. zum Thema Macht in der Pflege Wilhelm 1998, 167 ff). Während die eigene Belastung durch demente Bewohner den Mitarbeitern durchaus bewusst ist, empfinden sie meist die Belastung für den gesunden Mitbewohner – der diese Belastung 24 Stunden täglich ertragen muss – als durchaus akzeptabel. (Mitarbeiterin auf die Frage eines Bewohners, was er denn tun soll, wenn »die (demente Bewohner) dauernd bei mir ins Zimmer kommen?« »Dann sagt man denen im ruhigen Ton, dass sie gehen sollen, und dann gehen die ja meistens.«)

 uf einer Fortbildung definierten Mitarbeiter die Beziehung zu Bewohnern als freundschaftlich. Auf die Frage hin, warum sie, wenn es denn eine freundschaftliche Beziehung ist, niemals in ihrer Freizeit etwas mit den Bewohnern unternehmen würden, verwiesen sie entsetzt auf die Dienstzeit. Auf die Bemerkung hierauf, daß eine freundschaftliche Beziehung nichts mit Dienstzeiten zu tun habe, kam die Antwort: »Wir haben ein freundschaftliches Verhältnis von 7.00 bis 14.00 Uhr, und das weiß auch der Bewohner«.

Dies macht deutlich, dass nicht nur bei den einzelnen beteiligten Gruppen unterschiedliche Definitionen der Beziehung vorliegen, sondern dass sogar der Einzelne keine genaue Definition für diese Beziehung hat. Auch in alltäglichen Situationen wird dies deutlich. Häufig entstehen Situationen, in denen Mitarbeiter nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen. Tragen sie für den Bewohner Verantwortung oder nicht? Müssen sie ihn daran hindern etwas zu tun, was ein bestimmtes Risiko für ihn birgt oder dürfen sie es überhaupt nicht? Inwieweit dürfen sie sich in Streit zwischen Bewohnern oder Bewohnern und Angehörigen einmischen? Teilweise ist ihr Verhalten dem Bewohner gegenüber widersprüchlich, einerseits eine freundschaftliche Beziehung und andererseits ›professionelle‹ Distanz. Deutlich wird dies auch bei der Anrede (Eine Mitarbeiterin fragt eine Bewohnerin: »Möchten Sie noch etwas essen, oder bist Du schon satt«. Eine andere Mitarbeiterin bezeichnet die Beziehung als »freundschaftliche ohne Eindringen in die Privatsphäre«).

Oft sehen sich Mitarbeiter auch gezwungen, dem Bewohner den immer gut gelaunten, freundlichen Helfer vorzuspielen. Auf einem Vortrag von Herrn Prof. Dr. Grond am 6 Mai 1996 in Eickelborn widersprachen die Teilnehmer dem Referenten, der für einen »ehrlichen Umgang« mit den Bewohnern plädierte. »Warum kann ich (als Pfleger) mich nicht acht Stunden im Griff haben.« »Was spricht dagegen, eine Maske aufzusetzen?«

Die Tatsache, dass auf diese Art und Weise für den Bewohner unentwegt eine absolut anormale  Kommunikation entsteht. Niemand sagt ihm, was er denkt, alle sind nett zu ihm. Wenn er etwas möchte, wird er vertröstet – aber freundlich. Die Fragen, Probleme und Wünsche des Bewohners werden so nicht ernst genommen und mit Floskeln (Bewohner: »Ich muss nach Hause, mein Vater kommt von der Arbeit.« Mitarbeiterin: »Jetzt trinken wir zuerst mal Kaffee«) befriedigt. Hierbei darf die schwierige Situation für die Mitarbeiter allerdings nicht vergessen werden. Es ist für diese nur begrenzt möglich, die Umstände der einzelnen Beschwerden zu prüfen. Häufig werden Dinge verlegt und die Schuld am Verschwinden wird dementen Bewohnern gegeben. Bei den meisten Problemen handelt es sich um Bagatellen (Zwei Bewohnerinnen, die häufig miteinander spazieren gingen werden darauf angesprochen, warum sie in der letzten Zeit nicht mehr zusammen gesehen wurden. Beide äußerten den gleichen Grund: »Die redet ja nur von ihren Krankheiten, als ob die anderen keine hätten «; Kommentar eines Mitarbeiters: »Die Probleme müsste man haben «; Besuch: »Die haben ja sonst auch nichts mehr, womit sie sich beschäftigen könnte «), weshalb es diesen auf Dauer schwer fällt, Verständnis zu zeigen. Sowohl von Mitarbeitern als auch von Außenstehenden ist häufig der Kommentar zu hören: »Wenn die sonst keine Probleme haben, muss es denen ja ziemlich gut gehen «. – geht es ihnen aber nicht. Der Verlust der drei Nachthemden und die sich hieraus ergebenden Probleme waren für die Bewohnerin Grund für lebensbedrohliche  Ängste (Bewohnerin »meinte, sie könne ›deswegen noch einen Herzinfarkt kriegen «). Hierfür Verständnis aufzubringen war allerdings sowohl für Mitarbeiter als auch für die Angehörigen und Mitbewohner kaum noch möglich. So entsteht eine absolut schizophrene Situation (Mitarbeiter: »Da weiß man nicht mehr, ob man lachen oder weinen soll«), die auf beiden Seiten durch absolutes Unverständnis für das Gegenüber geprägt ist.

Im Gegensatz zu normalen  Mitmenschen scheint man (hierzu zählen Mitarbeiter und Besucher) Bewohnern einer stationären Altenpflegeeinrichtung dieses Unverständnis aber so nicht zeigen zu dürfen. Während Personen, die den Bereich der stationären Altenpflege nicht tagtäglich erleben (Besucher oder neue Mitarbeiter) meist versuchen, Verständnis für die Probleme zu zeigen, um sich danach bei anderen Mitarbeitern zu erkundigen, was den »dran « ist an diesen Problemen, reagieren routinierte  Beteiligte meist mit den bereits beschriebenen Floskeln. Hierdurch wird das Problem als solches erst gar nicht weiter thematisiert. Lediglich Angehörige reden »mal ein ernstes Wort « mit ihrer Mutter.

Die Mitarbeiter sehen ihre Aufgabe häufig darin, dem Bewohner eine einseitige, zeitlich begrenzte freundschaftliche Beziehung zu bieten, scheitern aber früher oder später selbst an dieser nicht zu erfüllenden Aufgabe.  Die Mitarbeiter sehen ihre Aufgabe häufig darin, dem Bewohner eine einseitige, zeitlich begrenzte freundschaftliche Beziehung zu bieten, scheitern aber früher oder später selbst an dieser nicht zu erfüllenden Aufgabe.

Literaturverzeichnis

Fiehler, R. (1996): »Wie’s zu unser Zeit noch war« – Kommunikation mit alten Menschen. In: Altenpflege

Forum. 4. Jahrgang, Nr. 4. Dezember 1996. Hannover. S. 115-124.

Koch-Straube, U. (1997): Fremde Welt Pflegeheim. Göttingen.

Kremer-Preiss, U. (1996): Belastung oder Entlastung? Angehörigenarbeit in Heimen. In: Altenpflege Forum. 4.

Jahrgang, Nr. 4. Dezember 1996. Hannover. S. 97-104.

Kruse, A. (1992): Konflikt- und Belastungssituationen in stationären Einrichtungen der Altenhilfe und

Möglichkeiten ihrer Bewältigung. Stuttgart.

Wilhelm, H.-J. (1998): Gefangene ihrer Wahrheit. Oberhausen.

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Sinnhaftigkeit der Sinngebung – Altenpflege Forum

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Demenz aus Sicht der Soziologie – Schweizerische Ärztezeitung