Demenz aus Sicht der Soziologie

Wenn alles Wahrheit wird,
wird die Wüste zum Weg

Dr. Hans-Jürgen Wilhelm

Veröffentlicht in: Schweizerische Ärztezeitung;
Schwabe & Co. AG Verlag - Basel; Nr. 35/1998 S. 1693 - 1695

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Zunächst kann man Demenz soziologisch wie folgt beschreiben: die alltäglichen grundlegenden Spielregeln und Definitionen - im folgenden 'Wahrheiten'1  genannt - werden nicht mehr mit den Mitmenschen geteilt. „Genauer gesagt, ist die geistige Gesundheit, wie der gesunde Menschenverstand sie definiert, die Fähigkeit, das soziale Spiel, worin dies immer bestehen mag, zu spielen und es gut zu spielen. Wenn umgekehrt jemand nicht mitspielt oder schlecht spielt, dann heißt dies, daß er geisteskrank ist. Nun müssen wir aber fragen, welche Unterschiede, wenn überhaupt, zwischen sozialer Nonkonformität (oder Abweichung) und seelischer Krankheit bestehen. Ohne im Augenblick näher auf technische psychiatrische Erwägungen einzugehen, behaupte ich, daß der Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen - wie er sich z.B. in Redewendungen wie » Er ist nicht ganz bei sich«  oder » Er ist geisteskrank«  ausdrückt - sich nicht notwendig in beobachtbaren Tatsachen, auf welche sie sich beziehen, manifestiert, sondern lediglich auf unserer unterschiedlichen Einstellung dem Betreffenden gegenüber beruht. Wenn wir ihn ernst nehmen, ihm menschliche Rechte und menschliche Würde zugestehen und ihn für mehr oder minder gleichberechtigt halten, - dann sprechen wir von Meinungsverschiedenheiten, Abweichungen, Auseinandersetzungen, Verbrechern, vielleicht sogar von Verrat. Meinen wir jedoch, daß wir nicht mit ihm kommunizieren können, und daß er irgendwie grundlegend verschieden von uns ist, dann sind wir geneigt, ihn nicht mehr als gleichberechtigt, sondern vielmehr als einen minderwertigen (selten als einen überlegenen) Menschen anzusprechen; und dann nennen wir ihn närrisch, geisteskrank, verrückt, psychotisch, unreif usw.“ (Szasz zitiert nach Goffman 1973, 346f). Als überlegen werden diejenigen bezeichnet, die die zugrundeliegende Wahrheit sehr gut kennen und die Fähigkeit besitzen, diese zu beeinflussen. Menschen, die in der Lage sind, die innerhalb dieser Wahrheit geltenden Gesetze  aufzuheben. Meist tragen solche Menschen Titel wie Zauberer, Medizinmänner, Priester, Seher, Hexen, Ketzer oder gar Götter. Erinnert man sich z.B. an die Zeit der Inquisition, so erkennt man ganz deutlich dieses Spiel mit der Wahrheit. Ketzer werden dem einfachen Volk , das nur die eine Wahrheit kennt, als Mächtige des Bösen gekennzeichnet, denen es, ohne die Macht der Inquisition, bedingungslos ausgeliefert wäre. Kaum ein Inquisitor wird ernsthaft daran geglaubt haben, daß einer der Verurteilten tatsächlich in der Lage wäre, die ihm vorgeworfenen Wunder zu vollbringen.2  Die oben genannten Begriffe beinhalten immer etwas Mystisches, Unfaßbares. Der Begriff der Ehrfurcht zeigt deutlich die beiden Gefühle, die mit diesen Personen verbunden sind: Ehre und Furcht. Es ist die Ehre vor der Macht, die diese Person besitzt und die Angst davor, diese Person nicht definieren  zu können. Da sie sich der allgemein geltenden Wahrheit entzieht, ist sie nicht greifbar, nicht verstehbar, nicht zuzuordnen. Dem Narren wird dieselbe Furcht entgegengebracht, jedoch fehlen ihm meist die Möglichkeiten, sich zu schützen, da er seine Wahrheit lebt, er ist in ihr gefangen, wie die anderen in der ihren. Durch sein Verhalten stellt er aber unentwegt die allgemein geltende Wahrheit in Frage und stellt hierdurch eine Gefahr für diese dar.3  Im Gegensatz zum Mittelalter sind heute die

Methoden bei uns lediglich etwas humaner geworden, mit solchen Narren  umzugehen. „Das Verhalten des Abweichlers bedroht die gesellschaftliche Wirklichkeit als solche fundamental, indem es die Gewißheit ihrer kognitiven und normativen Verfahrensweisen (...) in Frage stellt. (...) Ein so radikales Abweichlertum verlangt eine therapeutische Praxis, die fest in therapeutischer Theorie gegründet ist. Es muß eine Theorie der Abweichung (» Pathologie«  genannt) geben, die für so betrübliche Fälle zuständig ist (...). Eine erfolgreiche Therapie (...) resozialisiert den Abweichler in die objektive Wirklichkeit der symbolischen Sinnwelten seiner Gesellschaft“ (Berger / Luckmann 1995, 122 f).4

 Unweigerlich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage der Macht. Hierbei darf aber nicht nur an die Gruppe der Herrschenden gedacht werden, auch Masse besitzt Macht - sogar eine ganz erhebliche. „Masse macht Wirklichkeit“ (Beck 1986, 141).5  Wenn ich entdecke, „daß alle meine Kollegen verrückt geworden sind“ (Berger / Luckmann 1995, 27 f), so werde ich dennoch arge Probleme haben, diese davon zu überzeugen und ihnen begreiflich zu machen, daß ich der einzige Normale  bin. Zweifellos bin ich hiervon überzeugt, doch angesichts der quantitativen Übermacht werde ich meine Wahrheit kaum durchsetzen können. In einer ähnlichen Situation muß sich ein dementer Bewohner befinden, dem - trotz seines besseren Wissens - die gesamte Umwelt erzählen will, daß sein Vater nicht arbeiten, sondern tot ist und das schon seit Jahren - dabei hat er noch heute morgen mit ihm gefrühstückt (TE 15). Der „Kollektivitätsgrad“ (vgl. Schulze 1996) kann auf eine Person beschränkt sein, der demente Bewohner bildet sozusagen ein Einpersonenmodell der Wahrheit.

Der demente Bewohner ist ein Gefangener seiner Wahrheit. Hier ist es sehr wichtig, von anderen Geisteskrankheiten zu unterscheiden. Die Welt des dementen Bewohners ist nicht unbedingt anormal, aber unwahr. Das heißt, daß die Wahrheit des dementen Bewohners meist nur in der Zeit oder der Ortsachse verschoben ist, seine Wirklichkeit und Normalität aber mit der der Umwelt weitestgehend gleich blieben. Der demente Bewohner glaubt weder an fliegende Teppiche, noch an sprechende Tiere, er mag zwar 93 anstatt der von ihm angegebenen 24 sein, aber er ist nicht Napoleon. Dies ist entscheidend, da demente Bewohne für uns meist ganz normal  reagieren, wenn wir unsere Wahrheit lediglich an der Zeit- und Ortsachse verschieben.6  Ganz normal bedeutet hier: Er reagiert wie jeder andere normale  Mensch in einer solchen Situation reagieren würde. Ein besonders gutes Beispiel hierfür ist das Zubettbringen eines 65jährigen dementen Bewohners. Die Mitarbeiter beklagten sich, daß dieser Bewohner jeden Abend, wenn sie ihn ausziehen wollen aggressiv oder anzüglich reagiert und es für sie somit fast unmöglich ist, ihn ins Bett zu legen. Von Seiten der Altenpfleger ein verständliches Problem. Wenn man sich nun aber die Situation aus der Sicht des Bewohners betrachtet, der diese bestimmt anders interpretiert als dies die Mitarbeiter tun, wird deutlich, daß auch er ganz normal  handelt. Für ihn ist sicherlich nicht klar, daß er sich, als Alzheimer Patient, in einem Altenpflegeheim befindet und die Frau lediglich eine Altenpflegerin ist, die ihn zu Bett bringen möchte. Für den Bewohner wird es sich um eine Frau handeln, die ihn in ein Zimmer bringt, auf das Bett setzt und dann beginnt ihn auszuziehen (TE 5). Es wäre in einer solchen Situation kaum normal , einfach einmal abzuwarten was passiert und die Frau passiv gewähren zu lassen.

Besonders schwierig wird es nun für den dementen Bewohner, da seine Umwelt meist absolut anormal  auf ihn reagiert. Die fremde Frau zieht ihn einfach aus, ein fremder Mensch nimmt ihn in den Arm und versucht ihm zu erklären, daß sein Vater schon tot ist etc..

Bei diversen Lösungsmethoden wird häufig vergessen, daß der demente Bewohner die Welt nicht so sieht wie der normale  Mensch, aus diesem Grund weisen diese Versuche ins Leere.

Der im Alltag Handelnde setzt Normalität voraus, d.h., daß das was andere tun einen Sinn hat und er diesen Sinn verstehen könnte, wenn er ihm erklärt würde. Das entstehen von Normalität ist ein gesellschaftlicher Prozeß, eine Art stillschweigend hingenommene kollektive Definition. „This thesis is concerned with the conditions under which a person makes continuous sense of the world around him“ (Garfinkel 1952, 1).

Der verwirrte Bewohner befindet sich in seiner eigenen Welt, seiner eigenen Wahrheit, in welche er eingeschlossen ist. Diese ist die Basis für seine Wirklichkeit und Normalität (vgl. Schütz / Luckmann 1991, 54 ff). Wie wir alle ist auch er ein Gefangener seiner Wahrheit. Wenn nun die Wahrheiten der verwirrten Bewohner und die ausgezeichnete Wirklichkeit (vgl. Schütz 1971, 392  ff) zusammentreffen (vgl. James 1890, Kap. 21), stimmen „die wesentlichen Unterscheidungen zwischen Schein und Wirklichkeit, Irrtum und Wahrheit, Trivialität und Bedeutung, Nebensächlichem und Wesentlichem“ (Garfinkel, 1974, 77) nicht mehr überein.

Abschließend möchte ich einen wichtigen Satz von Grond zitieren. Es ist entscheidend, daß "es nicht um Erfolg, sondern um Wohlbefinden des Bewohners und des Mitarbeiters" (Grond 1995) geht.

1 »Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen [...] die nach langem Gebrauch einem Volk fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind« (Nietzsche

1980, v, 314).

2 Hier sei auf das Kapitel des Großinquisitors in 'Die Brüder Karamasow' von Dostojewski verwiesen.

3 „Das minutiöse gesellschaftliche System, das durch die geordnete soziale Interaktion geschaffen und aufrechterhalten wurde, ist desorganisiert“ (Goffman 1983, 221).

4 „Demente Menschen sind für uns deswegen ein so großer Skandal, weil sie unsere narzißtischen Größenideen, die an Progression und Überleben gekoppelt sind, permanent kränken. An ihnen ist nichts, was uns gegen das Bewußtsein der eigenen Ohnmacht noch helfen könnte“ (Dimroth 1992, 132).

5 „Was normal ist, gilt als richtig“ (Schulze 1996, 227).

6 Uns z.B. in die Wahrheit des Don Quixote - das von Schütz (1972) verwandte Beispiel - hineinzudenken, ist bedeutend schwerer, da wir nicht wissen, wie Zauberer in dieser Wahrheit normal reagieren. Dieses Problem hat auch Sancho Pancha und erntet von Don Quixote immer wieder ein mitleidiges Lächeln, wenn er erneut etwas nicht versteht.

Abkürzungen

TE: eigene teilnehmende Beobachtung

Literaturverzeichnis

Beck, U. (1986): Risikogesellschaft, Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main.

Berger, P.L. und Th. Luckmann (1995): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt.

Dimroth, G. (1992): Probleme im Umgang mit demenzkranken Menschen. In: Heilberufe 3, 1992, S. 130-132.

Dostojewski, F. (1986): Die Brüder Karamasow. Erster Band. Berlin und Weimar.

Garfinkel, H. (1952): The perception of the other: A study in social order, PH. D. dissertation, Harvard University.

Garfinkel, H. (1974): Bedingungen für den Erfolg von Degradierungszeremonien. In: Gruppendynamik – Forschung und

Praxis Heft 2, 5 Jahrg. April 1974. Stuttgart, 77-83.

Goffman, E. (1973): Asyle. Frankfurt am Main.

Goffman, E. (1983): Wir alle spielen Theater /Die Selbstdarstellung im Alltag. München

Grond, E. (1995): Brief vom 25. November 1995. Hagen.

Schulze, G. (1996): Die Erlebnisgesellschaft – Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M..

Schütz, A. (1971): Gesammelte Aufsätze Band I. Den Haag.

Schütz, A. (1972): Gesammelte Aufsätze Band II. Den Haag.

Schütz, A. und Th. Luckmann (1991): Strukturen der Lebenswelt. Band I. Frankfurt am Main.

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Gefangene ihrer Wahrheit – Pflege Huber Verlag