Dr. Hans-Jürgen Wilhelm

Die Abrechnung eines Altenheim-Chefs

Der verlogene Umgang
mit der Pflege

Hamburger Morgenpost

7. Juni 2018, Seite 3

Die Privatisierung und das Vertrauen darauf, dass der Markt die Dinge regelt, sind der sichere Weg ins Fiasko. Gewinnstreben geht zu Lasten der Qualität und Menschlichkeit.

Wann sehen wir die Bedeutung alter Menschen endlich als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die durch intelligente staatliche Vorgaben wie in den skandinavischen Ländern, in Belgien oder den Niederlanden gelenkt werden muss?

Der freie Markt ist ein wichtiges Werkzeug. Durch ihn werden Produkte entwickelt, die am Markt gewinnbringend verkauft werden können. Eines aber kann und will er sicher nicht: gesellschaftliche Probleme lösen.

Glaubt jemand, es sei das Ziel der Autoindustrie, unsere Umwelt zu schützen? Natürlich nicht: Sie will Autos mit möglichst großem Gewinn verkaufen.

Das liegt in der Natur der Sache, wenn man den Regeln des Kapitalismus folgt. Im Gegensatz zu Autos ist Pflege allerdings kein ,.normales" Produkt. Niemand will pflegebedürftig sein und in einem Pflegeheim leben, aber wir alle sind dringend auf diese Hilfe angewiesen, wenn wir sie benötigen.

Ein für mich entscheidender Aspekt ist, dass diese Hilfe allen Menschen zur Verfügung steht und sich für niemanden die Frage stellen muss, ob er oder sie sich ein Altern in Würde leisten kann.

Aktuell ist der Pflegemarkt in einer Zwischenposition zwischen freiem Markt und behördlichen Vorgaben gefangen. Gerade Großstädte sind für Immobilieninvestoren sehr interessant. So werden immer mehr Pflegeheime neu gebaut und es entsteht ein massiver Konkurrenzdruck. Durch die vorgegebenen Personalschlüssel bzw. Preise fehlen aber zentrale Handlungsmöglichkeiten des freien Marktes, um auf diese Konkurrenzsituation reagieren zu können. Der aus meiner Sicht ungünstigste Kompromiss. Keine wirkliche Entscheidung zu treffen ist hier die politisch schlechteste Lösung, genau das geschieht aber gerade. Wenn die Politik tatsächlich den freien Markt will, dann sollte sie auch mit allen Konsequenzen den Mut dazu haben. den Markt ganz: zu öffnen. Die Folgen wären für viele unerfreulich. Aber es wäre wenigstens ehrlich.

Das nun 8000 Stellen im stationären Bereich geschaffen werden sollen, ist doppelt zynisch.

Ein weiterer wichtiger Aspekt: Der Pflegeberuf ist auf den freien Arbeitsmarkt nicht vorbereitet. Pflege ist seit Jahrhunderten ein helfender, ein dienender Beruf. Die Menschen in der Pflege haben es nie gelernt, sich zu positionieren. Sie leiden und hoffen, dass jemand ihre Bedürfnisse erkennt.

So aber funktioniert der freie Arbeitsmarkt nicht. Die etwas über 30.000 Mitglieder der Gewerkschaft der Lokführer legen einfach einmal den Bahnverkehr in Deutschland lahm, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Die allein über 310.000 Pflegefachkräfte in stationären Pflegeeinrichtungen in Deutschland legen sich als radikalste Protestform auf den Boden und hoffen, dass jemand hilft.

Mir geht es nicht darum, die Aktion “Pflege am Boden” ins Lächerliche zu ziehen, die mit solchen Bildern für Aufmerksamkeit sorgen wollte. Aber wenn wir zukünftig junge Menschen für den Pflegeberuf begeistern wollen, brauchen wir eine starke, selbstbewusste Pflege. Eine Pflege. die sich selbst aktiv für die eigenen Interessen einsetzt. Daran hat aber nicht nur der freie Markt kein Interesse, sondern letztendlich anscheinend auch nicht die Politik. Eine starke Pflege kostet Geld.

Es ist eine sehr schwierige politische Aufgabe, für alle ein würdevolles Altern auch im Pflegefall zu sichern und vor allem zu finanzieren, aber andere Länder zeigen mehr als deutlich, dass es gute und realisierbare Lösungen gibt. Dass nun 8.000 Stellen im stationären Bereich zusätzlich geschaffen werden sollen, ist jedoch doppelt zynisch. Wir reden hier erstens über etwas mehr als 0.6 Stellen pro Einrichtung. Und zweitens über potenzielle neue Mitarbeiter, die es auf dem Markt überhaupt nicht gibt!

Politisch motivierte “Streicheleinheiten”, um Aktivität und Umsetzungswillen zu demonstrieren, helfen nicht. Mehr Geld, um Pflegefachkräfte besser zu bezahlen, wäre vielleicht ein guter erster Schritt! Auch wenn dann die Pflegeabgabe für jeden von uns erhöht werden muss.

Politik muss sich dieser Verantwortung stellen und das gesamte Pflegesystem grundlegend überarbeiten und Bedingungen schaffen, damit eine starke und selbstbewusste Pflege entstehen kann.

Sich dieser Verantwortung weiterhin zu entziehen und auf den freien Markt zu hoffen, wird dazu führen, dass ln-Würde-Altern nicht für alle Menschen möglich sein wird, sondern nur für diejenigen. die es sich leisten können.

Originalartikel aus der Hamburger Morgenpost vom 7. Juni 2018

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