Verflucht zur Individualität
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Wenn Biographie zur Bastelbiographie wird und der eigene Lebenslauf zur Aufgabe, vielleicht gar zur einzigen sozialen Verpflichtung, die dem Einzelnen noch geblieben ist, dann darf es nicht verwundern, wenn der Einzelne versucht, diese Aufgabe optimal zu lösen.
Das einzige immer unerreichbarer werdende Ziel ist die Zufriedenheit, die den derzeit allzu gefürchteten Zustand des Innehaltens impliziert.
Wenn alles Wahrheit wird, wird die Wüste zum Weg
Und selbst hierbei wird das Subjekt immer mehr auf sich selbst verwiesen. Der Weltanschauungskasten ist nicht geplündert, wie Gronemeyer schreibt, er ist überfüllt - wobei das Ergebnis hierbei eigentlich dasselbe ist. Eine wahre Flut von Wahrheiten führt zur Inflation der Wahrheit. Aus der von Berger beschriebenen "kognitive Kontamination" ist eine Immunschwächekrankheit geworden. Wahrheit wird zur Ansichtssache, die Begriffe Wahr und Falsch verlieren ihre trennende Bedeutung, sie werden relativ. Wenn alles Wahrheit wird, wird die Wüste zum Weg. Jeder ist nicht nur gezwungen seine eigene Biographie zu erarbeiten, er muß sogar seine Ziele selbst bestimmen, an welchen er diese ausrichten will. Auf diese Art und Weise ist nur allzu verständlich, daß die hierbei jeweils gefundenen Ziele meilenweit voneinander entfernt liegen können.
Vom "Genug zum je mehr desto besser"
Doch selbst diese zahlreichen Ziele – wenn man sie denn gefunden hat – verblassen, wenn man sie schließlich erreicht hat. Alles ist erklärbar, alles machbar und alles ist zu steigern. Transzendenz, Wunder alles Unerklärliche hat seine Berechtigung verloren. Jede Frage scheint weltimmanent beantwortet werden zu können. So wird die Frage der Verhütung zur entscheidenden Glaubensfrage.
Doch können wir tatsächlich so sicher wissen, "daß die Wahrheit der modernen Physik notwendig die Unwirklichkeit von Engeln impliziert“ (Berger)?
Diese Entwicklung vom "Genug zum je mehr desto besser" (Gorz) setzt jeden Einzelnen unter permanenten Druck. Jedes Ziel ist erreichbar und somit jedes nicht erreichte Ziel eine persönliche Niederlage. Der Einzelne wird zur sozialen Selbstbefriedigung gezwungen, er ist zur Individualität verdammt.
Zur Individualität verdammt
Wenn der Einzelne gezwungen wird, seinen Lebenslauf selbst zu erarbeiten, so scheint er - wenn er diese Aufgabe für sich optimal gelöst hat - nur sehr bedingt bereit zu sein, an seine gesellschaftlichen Verpflichtungen erinnert zu werden.
Das zur Individualität verdammt Individuum sieht seinen Erfolg als seinen alleinigen persönlichen Erfolg, für den es niemandem Dank schuldet, und der immer weiter gesteigert werden muss.
Das einzige immer unerreichbarer werdende Ziel ist die Zufriedenheit, die den derzeit allzu gefürchteten Zustand des Innehaltens impliziert.
Mehr dazu: „Am Ende des Weges“ - https://www.drwilhelm.org/derweg
Dr. Hans-Jürgen Wilhelm – www.drwilhelm.org